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Virginia Woolf „Zum Leuchtturm“ – Hörspiel in 3 Teilen

Zum Leuchtturm ist Virginia Woolfs fünftes literarisches Experiment. Für die Autorin war es ihr wichtigstes Werk, in dem sie nichts weniger fassen wollte als „das Tragische, das Komische, die Leidenschaft und das Lyrische“.  Mehr noch als in Mrs. Dalloway oder Jacobs Zimmer, arbeitet Woolf hier an der Verschränkung und Verdichtung von Zeit-, Gefühls- und Erlebnisebenen.

 

Am Anfang steht die Frage des kleinen James Ramsay, ob die für den nächsten Tag geplante Segeltour zum Leuchtturm stattfinden wird. Das Wetter verhindert den Ausflug. Zehn Jahre vergehen bis zur Erfüllung seines Kindheitstraums, womit der Roman endet. Anhand der Erlebnisse der Familie Ramsay und einiger Freunde in einem schottischen Ferienhaus, verschachtelt Woolf die Gleichzeitigkeit und Unordnung von unmittelbar erfahrenem und reflektiertem Leben. Sie kontrastiert einen auf die Menschen gerichteten Blickcluster mit der vom menschlichen Schicksal ungerührt fortschreitenden Zeit, in der Kriege und menschliche Tragödien nur winzige, unwichtige Episoden darstellen. Diese Perspektive ist akustisch markiert vom Geräusch der am Strand sich brechenden Wellen, was gleichzeitig bedrohlich und beruhigend wirkt. Virginia Woolf wusste früh, dass dieser Roman vom Klang des Meeres unterlegt sein sollte und es scheint, als habe sich die Autorin so auch in einen  Schreibrhythmus gewiegt, der sie in ihre Kindheit zurückführte. Mr. und Mrs. Ramsay sind den Eltern der Autorin nachempfunden: Julia Stephen, der charismatischen, früh verstorbenen Mutter und Leslie Stephen, dem cholerischen Vater und einflussreichen Schriftsteller. Wenn dieses Werk auch von Woolfs emotionaler Ambivalenz gegenüber den Eltern angetrieben wird, so lässt es das Autobiografische doch weit hinter sich. Die Autorin verdichtet ihr Nachdenken über das eigene Leben ins Universale, indem sie eine Reihe von Gegensätzen untersucht: männlich / weiblich, Leben / Tod, Kreativität (Malen, Schreiben, Reden) / steriler Egozentrismus, Vergänglichkeit des Augenblicks / Schaffen einer dauerhaften Erfahrung. Diese Dualismen bettet Woolf in die drei Teile ihres Romans ein, von denen der erste an einem Nachmittag und Abend spielt, der zweite zehn Jahre umfasst, in denen fast ausschließlich das Haus Protagonist der Erzählung ist und der dritte einen langen Vormittag darstellt. Zum Leuchtturm wird von Natur- und Alltagsgeräuschen getragen, von Gesprächsfetzen oder erinnerten Stimmen, die dieses Textgebilde schon beim Lesen emotional zum Leuchten bringen. Im Radio kommen sie zu sich.

Virginia Woolf: Zum Leuchtturm (1-3)

Aus dem Englischen von Gaby Hartel
Bearbeitung: Gaby Hartel
Komposition: Ulrike Haage
Regie: Katja Langenbach
BR 2016

Die Tür aus Glas:

Zeit vergeht:

Der Leuchtturm:

© Bayern 2, Hörspiel,

„Ein zentrales Bild in Woolfs ‚Zum Leuchturm‘ hat mich nicht losgelassen: es ist das Bild der in der Terrassentür sitzenden, strickenden, denkenden, Wärme ausstrahlenden Mrs. Ramsay. Wie sie dort ihrem kleinen Sohn, der Bilder aus einem Kaufhauskatalog ausschneidet, das düstere Märchen vom Fischer und seiner Frau vorliest. Dabei funktioniert ihr Bewusstsein wie ein Magnet, der Wortfetzen anzieht, Alltagsgeräusche, eigene Erinnerungen und Gedankenfragmente. Aus einem zum Knäuel gewickelten Einzelfaden strickt Mrs. Ramsay eine Socke, etwas Ganzes, ein festes Gewebe, das wärmen wird und Freude bereiten. Genauso bringt sie die Menschen um sich herum immer wieder in einem erfüllten Augenblick zusammen, schafft etwas Festes in der vorbeifließenden Zeit. Auf einer übergeordneten Schöpfungsstufe verwebt Mrs. Ramsays Erfinderin, Virginia Woolf, ihrerseits sich kreuzende, sich streifende und aneinander vorbeilaufende Perspektiven, bündelt die Unordnung von Erzählerinnenstimmen, deren oft nicht motivierten Wechsel der Tempi, mit weiteren unerklärten Erzählkommentaren zu einem einzigartigen, flirrenden Textgewebe. Als Übersetzerin habe ich versucht, dieses dichte, vielfarbige, englische Textgewebe in eine fließende, vielstimmige Klangtextur zu überführen, in der das Aroma des Originals mitschwingt.“ 

Gaby Hartel

Virginia Woolf, geb. 1882 in London, Autorin und Verlegerin. Bereits durch den Vater Sir Leslie Stephen, Biograph und Kritiker, der freundschaftliche Beziehungen zu fast allen großen Schriftstellern des viktorianischen England unterhält, früher Kontakt mit Literatur und dem Literaturbetrieb. Beginn ihrer Autorentätigkeit als Mitarbeiterin für die literarische Beilage der Times, die sie bis zu ihrem Tode beibehielt. Immer wieder leidet sie an Depressionen. 1912 Heirat mit dem Journalisten und politischen Schriftsteller Leonard Woolf. In dem Haus am Fitzroy Square 29 in London entsteht die sogenannte „Bloomsbury-Gruppe“, der bedeutende Schriftsteller wie Desmond MacCarthy, Charles Tennyson, Clive Bell, Lytton Strachey, Raymond Mortimer, Hilton Young und John Maynard angehören. 1913 erster Selbstmordversuch. 1915 Romandebüt mit The Voyage Out (Die Fahrt hinaus). 1917 Gründung des Verlags Hogarth Press, gemeinsam mit ihrem Mann, mit der Spezialisierung auf moderne Literatur aus England, den USA und Russland. 1919 Erwerb des „Monk’s House“ in Rodmell (Sussex), abwechselnde Aufenthalte in London und Sussex. 1922 Beginn einer engen Beziehung zur Schriftstellerin Vita Sackville-West. Zahlreiche Veröffentlichungen von Erzählungen, Romanen und Essays. Ende der 1920er Jahre ist sie eine erfolgreiche und international anerkannte Schriftstellerin. 1939 fester Wohnsitz im „Monk’s House“. 1941 erneut schwere Depressionen. Aus Furcht vor neuen Nervenzusammenbrüchen ertränkt sie sich am 28. März 1941 in Rodmell.

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