Musiktipps

„Stepptanz auf Effektgeräten“ New Jazz Festival Moers 2021 von Peter Kemper

Beim 50. Internationalen New Jazz Festival in Moers kam ein Lebensgefühl auf, das schmerzlich vermisst wird. Als stilprägend zeigte sich eine Art Free-Noise-Improvisation, die stark aus den Experimenten der Neuen Musik schöpft.

Wickelrock und Jesuslatschen, Energiebällchen und Bongos – schon das 1. Internationale New Jazz Festival Moers im Juni 1972 verkörperte ein Lebensgefühl. Im Geist der Hippie-Bewegung ging es darum, ein Musikfestival als Erkundungs- und Möglichkeitsraum zu etablieren. Der Free Jazz mit seiner konsequenten Verweigerung des Mainstreams erschien als Vision einer Gegenöffentlichkeit, als klanggewordene ‚Kultur von unten‘. Wobei ‚free‘ mehr meinte als freie Improvisation: Veranstaltern wie Besuchern war es ein Bewusstseinszustand. Man träumte den Traum vom „permanenten ästhetischen Umsturz“ (Herbert Marcuse) nirgendwo so konsequent wie in der Stadt am Niederrhein, am Rande des Ruhrgebiets.

Die spektakulärste Performance am ersten Abend aber lieferte der Pariser Klangkünstler Julien Desprez. Ihn als Gitarristen zu bezeichnen, wäre eine hilflose Untertreibung. Denn mit seinen sechs Saiten entlockt dieser Griffbrett-Terrorist seinem Instrument nie gehörte Klänge: Morsezeichen von einem anderen Planeten, elektronische Sirenengesänge, Geräuschlawinen, Melodiefragmente für Momente – Jimi Hendrix, Glenn Branca, Sonny Sharrock lassen grüßen! Wie ein Stepptänzer auf Speed tanzt Desprez regelrecht auf seinen Effektpedalen, von einer penibel austarierten Lichtregie begleitet.

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Nachhaltig klar wurde auch diesmal, dass man die Avantgarde-Sounds in Moers als Beiträge in einer umfassenden kulturellen Debatte begreifen muss. Das zunächst etwas großspurig wirkende Festival-Motto „Der Kampf um die Zukunft“ entpuppte sich als treffender Slogan für den aktuellen Überlebenskampf vieler Künstler und Kulturinitiativen. Der Chicagoer Saxophonist Anthony Braxton, der in Moers zahlreiche Triumphe feierte, erinnerte in einem Grußwort daran, dass, „während wir uns aktuell von Lockdown zu Lockdown bewegen“, die Festivalidee zu Feier des Lebens, der Gemeinschaft und der Hoffnung diene.

© FAZ, Kultur, Feuilleton, 26.5.2021

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