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Laurie Anderson – „Glück ist die Fähigkeit, nicht bei jeder Kleinigkeit durchzudrehen“

Laurie Anderson, eine der größten Geschichtenerzählerinnen unserer Zeit, erzählt von globalem Kollaps und Orten der Gesetzlosigkeit – eines der SPEX-Interviews des Jahres.

Vielleicht ist alles um uns nur Fiktion. Laurie Anderson fände das gar nicht so schlimm. Die New Yorker Musikerin, bildende Künstlerin und größte Geschichtensammlerin seit den Gebrüdern Grimm hat den Ort für ihre Kunst immer im Dazwischen von akribischer Beobachtung und Imagination gefunden. Fakt ist: Im Juni feierte Anderson ihren 70. Geburtstag. Im März trat sie zum Abschluss des Medienkunstfestivals Transmediale in Berlin auf. Dort erzählte sie von Protestmärschen und Meditation, von Gummibandmusik mit Brian Eno und den zwei glücklichsten Menschen auf Erden.
Laurie Anderson, es ist unhöflich, das zu sagen. Aber Sie wirken etwas angeschlagen. Wie geht es Ihnen?
Oh, alle sind krank! Ich habe eine schlimme Erkältung. Eigentlich keine große Sache, aber die Widerstandskräfte liegen darnieder, und es fühlt sich an, als würde mir jemand immer wieder eine reinhauen. Jeden Tag aufs Neue passiert etwas Verrücktes, das einem klarmacht: Wow, ich lebe an einem Ort der Gesetzlosigkeit! Unser Justizminister und Generalbundesanwalt hat gerade einen Meineid begangen. Wir sind abhängig von einem grundlegenden Gesellschaftsvertrag – und der ist aufgelöst. Es ist unglaublich. Ich arbeite jeden Morgen mit meinem Trainer daran, Schläge auszuhalten. Wir lernen, wie man aufrecht stehen bleibt, wie man ausweicht. Ich betreibe fernöstliche Kampfkunst, ich mache Tai-Chi. Es gefällt mir, mit der Situation auf körperliche Weise umzugehen, denn das ist eben auch eine sehr physische Sache. Und ich habe diese Erkältung gerade auch wegen des Widerstands: Es gibt derzeit viele Protestmärsche, und in New York war es zuletzt noch ziemlich kalt. Viele Menschen finden sich in Gruppen zusammen – was eine tolle Sache ist –, aber man steckt sich leicht an, wenn man mit anderen Leuten im Kalten herumsteht….
© Spex, magazin, 23.12.2017

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