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„Angst und Lust“ Wie Pop von der Einsamkeit erzählt Von Jens Balzer

Einsamkeit: Das ist ein Gefühl, das in der Krise der letzten Monate viele Menschen ergriffen hat. Isolation: Das ist der Zustand, der das gesellschaftliche Leben regiert. Müssen wir Angst davor haben? Muss dieser Zustand uns quälen? Oder können wir Einsamkeit und Isolation nicht auch genießen?

In der Popmusik der letzten Jahrzehnte wurde diese Frage immer wieder gestellt. Wie kein anderes Medium vermag Pop vereinzelte Menschen zu Kollektiven zu verbinden – und feiert doch zugleich die Vereinzelung als einzig wahres Dasein im Widerstand gegen die falschen Verhältnisse. Schon immer hat Pop solchen Menschen eine Stimme geliehen, die sich fremd und vereinzelt fühlen in der Welt, in die sie geboren wurden. Pop kann dabei helfen, weniger einsam zu sein – etwa: indem er neue Gemeinschaften stiftet mit anderen, die sich ebenso isoliert fühlen wie man selbst. Die Hippies der Woodstock-Generation fanden ihr Glück in der Hitze des Kollektivs, im vermeintlichen Aufbruch der „beautiful people“ (Melanie) in eine bessere Welt. Die Postpunks der Achtzigerjahre fühlten sich hingegen am wohlsten in der „Isolation“ (Joy Division) und besangen die „Eiszeit“ (Ideal). Auch die neueste Generation des Post-Internet-Pop kennt unendliche Möglichkeiten zur Vernetzung mit Gleichgesinnten und zur stetigen Neuerfindung des eigenen Selbst – und kann doch dem Isolationsgefühl nicht entkommen, das dem Mangel an authentischer Nähe in der digitalisierten Kultur entspringt.

Von den Isolationsgefühlen der Gegenwart schlägt dieser Essay einen weiten Bogen zurück in die Geschichte des Pop und versammelt Stimmen und Klänge, Posen und Positionen der Einsamkeit. Dabei zeigt sich, dass die Angst vor der Isolation und die Lust an ihr immer schon dialektisch ineinander verflochten sind: So ist Pop ein getreuer Spiegel jener widersprüchlichen Gefühle, mit denen wir die Krise der Gegenwart erleben und zu überleben versuchen.



© Bayern2, Nachtstudio, 19.1.20221

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